Betriebliche Mitbestimmung in Zeiten des „Invisible Learning & Development“

Wie können Betriebsräte in die Weiterentwicklung der Lernkultur einbezogen werden?

Bis heute sind die Corporate Learning-Aktivitäten der meisten Unternehmen von einer tiergehenden Separierung des beruflichen Lernens von der “eigentlichen” Arbeit gekennzeichnet. Diese Sondierung von Arbeit einerseits und Lernen andererseits erfolgt dabei i.d.R. sowohl in zeitlicher Hinsicht (eigene Fortbildungstage), räumlich (eigene Fortbildungsräumlichkeiten) wie auch organisatorisch (eigene Zuständigkeiten für die berufliche Bildung, separiert von den Führungsstrukturen). Die zu Grunde liegende Vorstellung des Lernens ist dabei die einer leider notwendigen, zeitlich begrenzten Investitionsphase zur (einmaligen) Herstellung gewünschter Produktivität für die anschließende wertschöpfende Arbeit.

In Deutschland wird diese Separierung noch zusätzlich durch die betriebliche Mitbestimmung verstärkt: Das Betriebsverfassungsgesetz sieht für die betriebliche Berufsbildung ein besonderes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates vor, so dass betriebliche Berufsbildungsaktivitäten allein schon aus Gründen der Mitbestimmung klar abgegrenzt werden müssen:

"Der Betriebsrat hat bei der Durchführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung mitzubestimmen." - BetrVG § 98, Abs. 1

Dieser Regelung liegt ein überkommenes, sehr formales Verständnis von Lernen zugrunde, das davon ausgeht, dass sich betriebliches Lernen in klar als solche abzugrenzenden “Maßnahmen” vollzieht; so spezifiziert der Kommentar zum BetrVG:

"Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung, bei deren Durchführung der Betriebsrat mitzubestimmen hat, sind alle Maßnahmen, die über eine bloß arbeitsplatzbezogene Unterrichtung des Arbeitnehmers hinaus ihm gezielt Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln, die ihn zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit befähigen oder es ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erhalten” - Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 15. Auflage 2016, § 98 Rdnr. 11  

Aber was sind noch betriebliche Bildungsmaßnahmen, wenn es darum geht, Lernen und Arbeit zu verschmelzen?

Damit wird deutlich, wie sehr die betriebliche Mitbestimmung zunehmend im Widerspruch zu den Veränderungen steht, die gerade die Realität des Lernens in der Arbeitswelt transformieren: Je stärker die Personalentwicklung informelle und soziale Lernformen einbezieht, das Lernen zunehmend in den Arbeitsprozess selbst integriert wird und digitale Formate die Grenze zwischen on demand verfügbarer Information und strukturiertem Lernen verwischen, umso schwieriger wird die Abgrenzung möglich, auf der die Regelung des BetrVG fußt: Die Weiterentwicklung des betrieblichen Lernens verfolgt ja wesentlich die Vision, Arbeit und Lernen zu verschmelzen und zu einer “learning-rich work” zu gelangen. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass in dem Maße, wie die Wertschöpfung moderner Industrien und Dienstleistungen auf Wissen und Können basiert, Erwerb und Weiterentwicklung dieser Wertschöpfungsvoraussetzungen nicht mehr eine initiale, klar abzugrenzende Investition darstellen, sondern als “knowledge work” Teil der Arbeit selbst werden.

Am deutlichsten wird diese Diskrepanz zwischen der Zukunft des betrieblichen Lernens einerseits und dem Lernverständnis des Betriebsverfassungsgesetzes andererseits, wenn man das Konzept des “Invisible Learning & Development” in den Blick nimmt, das Bersin by Deloitte als Zukunftsszenario für die berufliche Bildung vor Augen hat: „Invisible L&D“ ist danach: 

"An L&D approach to developing the workforce by enabling and assisting learning throughout the organization, wherever and whenever it happens." - Bersin by Deloitte

Dieses “unsichtbare Lernen” ist damit gerade dadurch charakterisiert, dass es sich vollständig der Abgrenzung entzieht, wie sie das Betriebsverfassungsgesetz zum Ausgangspunkt nimmt.

Drei Probleme aus der Praxis

Zur Verdeutlichung drei reale Beispiele aus meiner Beratungserfahrung in deutschen Konzernen, in denen diese Diskrepanz heute schon zu Tage tritt:

  1. Handelt es sich bei digitalen Lernmedien, die von Mitarbeitern selbst erstellt und weitergegeben werden („user/learner-generated content“) um Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung? – Einzelne Bildungsausschüsse von Betriebsräten sehen das heute so und fordern in jedem Einzelfall ihre Einbindung.
  2. Ein Großunternehmen versucht die Mitbestimmung zu vermeiden, indem es „learning nuggets“ als interne Kommunikation positioniert und über andere Kanäle als das LMS, z.B. über interne soziale Medien wie Yammer, streut.
  3. Der Betriebsrat eines großen Finanzdienstleisters versteht eine regelmäßig stattfindende, informelle Diskussionsrunde, in der sich Experten aus eigenem Antrieb zu einem gemeinsamen Thema vertiefend austauschen, als Bildungsmaßnahme und fordert seine Mitbestimmung ein.

Was tun? – Ein pragmatischer Vorschlag

Wie umgehen damit? Zunächst: Es wird auf absehbarer Zeit einen immer größeren Graubereich geben, für den die Unternehmensseite und die Betriebsräte gemeinsam einen gangbaren Weg werden finden müssen. Die Integration des Lernens in die Arbeit wird weder zu einer gleichsam entgrenzten Anwendung des Mitbestimmungsrechtes im Sinne von §98 des BetrVG führen, noch wird sich die Unternehmensseite andererseits durch neue Lernformen und die Reduktion klassischer Präsenzveranstaltungen dieser Mitbestimmung einfach entziehen können.

In der Diskussion mit vielen Betriebsräten großer Konzerne zur Frage der Zukunft des Lernens haben sich indes folgende Maximen bewährt:

  1. Zunächst einmal sollte die offene Diskussion mit dem Betriebsrat bzw. dem Bildungsausschuss gesucht und die sich abzeichnende Entwicklung des betrieblichen Lernens in ihrem Spannungsverhältnis zu den geltenden Regelungen der Mitbestimmung offen artikuliert werden.
  2. Schließlich kann gemeinsam reflektiert werden, wie sehr sich das eigene Lernverhalten der handelnden Akteure längst geändert hat. Dabei helfen Leitfragen wie etwa:
    1. Was sind Ihre prägendsten Lernimpulse der letzten Jahre gewesen?
    2. Was hat diese Lernerfahrungen ausgezeichnet und warum waren sie prägender als andere?
    3. Wenn Sie sich heute vornehmen würden, in Ihrer Freizeit etwas zu lernen, zum Beispiel das Segeln, und einen entsprechenden Segelschein machen wollten, wie würden Sie das angehen?
    4. Wie würde sich diese Herangehensweise von derjenigen unterscheiden, die heute unseren Lernangeboten im Unternehmen zu Grunde liegt?
    5. Wie und in welchem Maße können wir diese Kluft schließen und zu intuitiveren Lernformen auch im beruflichen Kontext kommen?
  3. Zumindest ein Minimalziel sollte erreichbar sein: Beide Seiten sollten die sich objektiv vollziehenden Entwicklungen klar vor Augen haben und sich auf gemeinsame Begrifflichkeiten verständigen. Es ist schon viel gewonnen, wenn allzu pauschale und zunehmend nichtssagende Begriffe wie „e-learning“, die jeder entsprechend seiner Erfahrung mit Lernformaten unterschiedlich füllt, überwunden und eine differenzierte Sprache gefunden wird.
  4. Dem Betriebsrat sollte aufgezeigt werden, dass viele der sich abzeichnenden Entwicklungen des betrieblichen Lernens im Sinne der Anliegen sind, die den Betriebsrat seit je umtreiben:
    1. Breitere Gruppen von Mitarbeitern haben die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln,
    2. Der Zugang zur Weiterbildung wird weniger reglementiert und ein Großteil der Weiterbildungsmöglichkeiten wird für jeden Mitarbeiter jederzeit offenstehen.
    3. Damit steigen die Entwicklungschancen vieler Mitarbeiter.
  5. Schließlich ist es hilfreich klarzustellen, dass sich die Entwicklungen in Richtung der Digitalisierung des Lernens, einer breiteren Palette an Lernformen und einer zunehmenden Selbststeuerung des Lernens durch den einzelnen Mitarbeiter de facto bereits vollziehen. Dies ist nicht primär eine Frage der bewussten Entscheidung hierfür, weder des Unternehmens noch des Betriebsrates, sondern in weiten Teilen schlichtweg eine zu beobachtende Verhaltensänderung der Mitarbeiter in ihrem Arbeitsalltag. Selbst in Unternehmen, die diese Entwicklungen kaum aktiv befördern, ändert sich das Lernverhalten in dieser Weise, weil sich Mitarbeiter autonom im Rahmen ihrer Möglichkeiten längst anders entscheiden und z.B. frei verfügbare Lerninhalte im Internet tagtäglich nutzen. Letztlich geht es also nicht zuvörderst darum, ob diese Entwicklung zu begrüßen ist und in welchem Maße sie auch problematische Aspekte birgt, sondern vordringlich um die Frage, ob die Veränderung des Lernens vom Unternehmen gemeinsam mit dem Sozialpartner mitgestaltet oder einem längst in vielen Unternehmen zu beobachtenden Wildwuchs überlassen wird, der weder im Interesse der Unternehmensführung noch des Betriebsrates sein kann. Eine pauschale Verweigerung birgt für den Betriebsrat damit nicht zuletzt die Gefahr, den Bezug zur Realität des täglichen Lernens zu verlieren und sich an ein enges, überkommenes Lernverständnis zu klammern, das die eigene Position massiv schwächen würde.

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